Aktuell

In Australien (Commonwealth of Australia mit rund 24 Millionen Einwohner) waren im 2012 etwa 230‘000 Personen mit dem Hepatitis C-Virus1 infiziert; diese Zahl nimmt jährlich um rund 10‘000 zu. Von den genannten haben 58‘000 mittlere bis schwere Leberschäden. Die am stärksten vertretene Altersklasse sind die 51- bis 60-Jährigen. Im Jahr 2012 rechnete man, dass 75 % dieser 230'000 Personen auf HCV diagnostiziert wurden, 20 % in Behandlung und 11 % bereits geheilt sind. Weltweit rechnet man gemäss WHO mit 150 Millionen HCV-infizierten Menschen und einer jährlichen Zunahme von 3 bis 4 Millionen. 

Da in Australien die Todesfälle durch Hepatitis-verursachte Leber-Erkrankungen seit einigen Jahren ansteigen, hat die Regierung hier Handlungsbedarf ausgemacht, dies insbesondere bei den Personen, die Drogen injizieren (PWID), welchen den grössten Teil der HCV-Infizierten ausmachen. HCV wurde von der Regierung denn auch als Bedrohung der öffentlichen Gesundheit - man spricht von einer Silent Pandemic - identifiziert, was ein nationales HCV-Programm rechtfertigt. Die australische Zentralregierung beschloss am 20. Dezember 2015, eine umfassende HCV-Strategie umzusetzen: The Fourth National Hepatitis C Strategy 2014-2017.

Seit kurzem sind neue Behandlungsmöglichkeiten von HCV verfügbar, die als Direct Antiviral Agents, abgekürzt DAA wirken anstatt wie bisher Interferon und Ribavirin zu verabreichen. Die Heilungschancen sind mit über 95% sehr gut die Verträglichkeit ist wesentlich besser als bei Interferon und Ribavirin, es gibt wenig bis gar keine Nebenwirkungen.

Das nationale HCV-Programm für den Commonwealth of Australia will die Neuinfektionen um 50 % reduzieren und die Anzahl behandelter Personen deutlich erhöhen. Alle Betroffenen, ohne jede Einschränkung, also auch unabhängig davon, wie und wo sie sich infiziert haben, sollen Zugang zur Behandlung erhalten. Dies betrifft auch Patienten mit Re-Infektionen oder mit Therapieversagen (Treatment Failure). Zum Programm gehört auch die Förderung von HCV-Tests und entsprechender breiter Information der Bevölkerung; Harm-Reduction-Programme für PWID; Schulung, Information und Sensibilisierung der Ärzte (alle Ärzte ohne Einschränkung dürfen die neuen HCV-Medikamente verschreiben) sowie ein Monitoring-Programm das Behandlung und Ergebnisse (u.a. die Adhärenz) des Programmes statistisch erfassen und evaluieren soll. Man erhofft damit eine Win-Win-Win-Situationen zu schaffen, die sowohl für die Behörden, als auch für die Pharma-Industrie und vor allem für die Betroffenen zu einer wesentlichen Verbesserung führt. Im Weiteren ist man überzeugt, dass eine wirkungsvolle Behandlung möglichst vieler HCV-Betroffener auch eine gute Präventionswirkung hat (ähnlich wie bei HIV). Prognoserechnungen lassen hoffen, dass wenn 80% der PWID mit HCV erfolgreich behandelt werden, die HCV-Prävalenz bei diesen Personen von 50% auf unter 5% sinken wird.

Dass dieses Programm überhaupt zu Stande kam und hier Australien weltweit eine Pionierrolle zukommt, hat wohl mit der Art und Weise der Verhandlung der Regierung mit den Herstellern der Medikamente zu tun. Mit rund 1% HCV-Infizierten gehört Australien (wie etwa die Schweiz oder Portugal) allerdings nicht zu den Hochprävalenzländern, wie beispielsweise Ägypten (22%, d.h. rund 12 Millionen HCV-Infizierte), Pakistan (4.8%), China (3.2%). Vereinfacht formuliert kann man die Vorgaben für die Verhandlungen der australischen Regierung mit der Pharmaindustrie folgendermassen zusammenfassen:

Australien ist bereit, für ein nationales HCV-Programm für die kommenden fünf Jahre 1 Mrd. australische Dollars ( 0.70 €) zu bewilligen. Wenn Australien die Medikamente zum «Ladenpreis für reiche Länder» von rund 100‘000 AUD pro Therapie übernimmt, könnten nur ein sehr kleiner Teil, also einige hundert Patienten behandelt und geheilt werden, was weder gerecht noch im Sinne einer Public Health Strategy ist. Anfänglich kostete nämlich eine 12-Wochen-HCV-Therapie in den USA 84‘000 US Dollars, also für eine Pille über 1’000US$. Für Entwicklungsländer wurde vom Hersteller ein Preis von 2’000 US$ für eine Behandlung ermöglicht. Eine Studie der Universität Liverpool kommt für Sofosbuvir (Brand Name Sovaldi) von Gilead zum einem realistischen, aktuellen Herstellungspreis von 1.70 US$ pro Pille, also rund 101 US$ für eine komplette 12-Wochen-Therapie, dies weil die Entwicklungskosten des Medikamentes durch die bisher von der Firma gemachten Gewinne bereits bei weitem amortisiert sind.

Wenn man sich jedoch zwischen Regierung und Hersteller auf einen wesentlich tieferen Preis einigen könnte, würden möglicherweise alle HCV-Betroffenen in Australien im Verlauf der nächsten fünf Jahre behandelt und mit hoher Wahrscheinlichkeit geheilt werden. Die Hersteller würden zwar so weniger Geld pro Therapie erhalten, dafür könnten sie wesentlich mehr Therapien (in Australien wären es dann über 200‘000 Therapien über die fünf Jahre des Programmes) verkaufen und beide Seiten würden dabei gewinnen. Anscheinend hat diese Strategie die Hersteller überzeugt und eine Einigung wurde erreicht. Die australische Gesundheitsministerin spricht von einem Preis pro Pille von 27.70 AUD bis eventuell gar nur 6.10 AUD (bei Herstellungskosten von rund 1 € pro Tablette für eine Therapie, die in der Regel 12 Wochen dauert) anstatt von 100‘000.—AUD pro Therapie.

Ähnliche Verhandlungen führten dazu, dass Indien selbst ein Generikum herstellen darf, sodass eine Therapie zwischen 100 bis 300 US$ kostet, während in Ägypten eine lokale Herstellung die Therapie für rund 300 US$ ermöglicht. Dieser enorme Preisunterschied hat dazu geführt, dass Patienten aus Europa (selbstverständlich mit einem gültigen Rezept ihres behandelnden Arztes) die Medikamente – auf durchaus legalem Weg – selbst aus Indien importieren, bisher allerdings auf eigene Kosten. Die Frage ist berechtigt, ob die Kosten solche Selbstimporte billiger Medikamente von den Krankenkassen bei uns zu übernehmen sind. Wenn sichergestellt werden kann, dass das importierte Medikament den Qualitäts-Anforderungen entspricht und die Therapie unter Kontrolle des behandelnden Arztes stattfindet, sollte dem nichts entgegenstehen.

Gemäss einer australischen Pressemitteilung von Ende Juli 2016 haben seit Start des Programmes bereits 22‘470 Personen die neue HCV-Therapie erhalten; vorher waren es pro Jahr lediglich 2’000 bis 3’000. Man hat gute Hoffnung, das Ziel des Programmes zu erreichen: dass bis 2030 die Neuinfektionen mit HCV und Hepatitis B um 90% zurückgehen, dass die Todesfälle durch HCV und Hepatitis B um 65% abnehmen, dass 90% der Kinder gegen Hepatitis B geimpft sein werden, dass 90% der im Jahr 2030 diagnostizierten Personen behandelt werden und dass 80% der Menschen mit HCV und Hepatitis B im Jahr 2030 geheilt sein werden.

Es ist sehr zu hoffen, dass auch weitere Länder ähnliche Nationale Programme erstellen und eine Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie anstreben und umsetzen, die im Interesse der Betroffenen ist. So hat beispielsweise Portugal im Februar 2015 ein nationales HCV-Programm beschlossen, das allen 13‘000 HCV-Betroffenen in Portugal in den kommenden drei Jahren Zugang zur Behandlung ermöglichen soll. Über den ausgehandelten Preis für die Medikamente wurde Stillschweigen vereinbart, gemäss Aussage des portugiesischen Gesundheitsministers hätten jedoch die Preise seit Beginn der Verhandlungen etwa auf die Hälfte abgenommen. Bis im Februar 2016 erhielten bereits 7’000 Personen eine Therapie mit einer Erfolgsrate von 96%. Andere europäische Länder (z.B. Schottland, Frankreich und Slowenien) haben ebenfalls nationale HCV-Programme initiiert.

John F. Dillon (Professor of Hepatology and Gastroenterology, University of Dundee) sagt dazu: «Wenn Portugal es tun kann, gibt es keine Entschuldigung für andere Industrieländer, es nicht umzusetzen. Sie hatten nicht die wirtschaftliche Stärke anderer Länder, wenn also Portugal sich entscheidet, es zu tun und sich dazu verpflichtet, müssten alle anderen Länder auch dazu im Stande sein.»

Es wäre durchaus prüfenswert, ob nicht mehrere Länder in Europa oder die EU selbst eine gemeinsame HCV-Strategie entwickeln und auch gemeinsam mit der Pharmaindustrie über Preise und Umsetzung verhandeln sollten. Es ist nämlich durchaus absehbar, dass in Zukunft weitere extrem teure Medikamente entwickelt werden, bei denen ebenfalls im Interesse von Public Health die nationalen Gesundheitsbehörden bei der Preisgestaltung mässigend und steuernd eingreifen sollten, damit auch diese für die entsprechenden Patienten zugänglich sind. Die HCV-Behandlung könnte damit zum Präzedenzfall werden.

Zum Schluss ein Zitat aus den Empfehlungen der WHO (Hepatitis C, Fact Sheet, Updated July 2016):

«Alle Erwachsenen und Kinder mit einer chronischen HCV Infektion sollten für eine antivirale Behandlung abgeklärt werden. … Die WHO empfiehlt, dass alle Patienten mit Hepatitis C mit einer DAA-basierten Therapie behandelt werden, ausser ein paar spezifische Personengruppen, bei denen die Interferon-basierten Therapien weiterhin eingesetzt werden (als Alternativtherapie für Patienten mit Genotyp 5 oder 6 und jene mit Genotyp 3 HCV Infektionen, die eine Zyrrhose haben).»

HIV Glasgow 2016: Therapiekosten werden zum Thema


Hansruedi Völkle / November 2016

 

1 HCV = Hepatitis C Virus

Therapiekosten sind an wissenschaftlichen Kongressen kaum ein Thema. Der Grund ist einfach: Die Ärzteschaft ist für die korrekte Diagnose und die entsprechende zweckmässige Therapie zuständig. Über die Preise verhandeln die Gesundheitsbehörden mit der Industrie, meist in Verschwiegenheit. Die europaweit grossen Schwierigkeiten puncto Kostenübernahme der neuen Hepatitis-C Therapien haben aber zu einer Sensibilisierung der Ärzte wie auch einzelner Regulierungsbehörden geführt. Andrew Hill vom Chelsea Westminster Spital in London hielt dazu ein aufsehenerregendes Referat anlässlich der Kongresseröffnung.

Der Titel „Krebs, HIV und virale Hepatitis-Therapie in Europa mit Generika: was könnte man tun?“ macht es deutlich: Andrew Hill holt weit aus. Er fordert nichts weniger als ein $90/$90/$90 – Ziel für die globale Therapie von viraler Hepatitis, HIV und Tuberkulose und begründet dieses mit massiv gesunkenen Herstellkosten. Sein Engagement erklärt sich aus der Weigerung des englischen NHS 1, Kosten von 4’800£ für eine PrEP bzw. 30'000 bis 100’000£ für die Heilung einer Hepatitis C auszugeben.

Noch 1999 hielt man ein Ausrollen der HIV-Therapie in Afrika aufgrund der Kosten als unmöglich. Aber ein Jahr später äusserte sich der Inder Yussef Hamied von der Generika-Firma Cipla an einem G8-Gipfel unverblümt: „Meine Generika-Firma kann antiretrovirale Medikamente für einen Dollar pro Tag herstellen“. Die Welt staunte, dabei hatte Thailand dasselbe schon drei Jahre früher vorgemacht. Doch erst die mächtigen indischen Generika-Hersteller machten die Produkte für Afrika interessant, weil sie auch Exportmärkte bedienen.

Andrew Hill zeigte auf, wie sehr die Produktionskosten von Medikamenten durch Skaleneffekte 2 sinken. Eine generische Tuberkulosetherapie für einkommensschwache Länder kostet schon heute bloss noch 90$ für 6 Monate.
Massiv gesunkene Kosten für Rohmaterialien für Hepatitis-C Medikamente führen zu Produktionskosten für eine 12-Wochen dauernde Therapie von deutlich unter 100$ für Sofosbuvir und Daclatasvir sowie gut 100$ für Sofosbuvir&Ledipasvir. Die Kosten für den aktiven Wirkstoff von Sofosbuvir sanken zwischen Januar 2015 und August 2016 von 9'000$ pro kg auf gut 1'100$. Daraus ergibt sich ein theoretischer Fabrikabgabepreis von 62$ für 12 Wochen generisches Sofosbuvir. In Deutschland beträgt der Preis für 12 Wochen Sofosbuvir gegenwärtig 50’426€ 3, in der Schweiz 46'914 Franken 4.

Hier ist ein kurzer Kommentar nötig. Einen wesentlichen Anteil an den massiv gesunkenen Herstellkosten haben sogenannte „Access“ Programme für ärmere Länder und freiwillige Lizenzvergaben für spezielle Märkte. Ein Beispiel unter vielen: Im von Hepatitis C schwer betroffenen Ägypten bezahlt die Regierung für eine Therapie 900$. Ähnliche Programme haben den massiven Zugang zur HIV-Therapie in Afrika erst möglich gemacht. Diese Programme sind nachhaltig, weil die sogenannt reichen Länder bereit waren, weiterhin hohe Preise zu zahlen.

Verweilen wir aber noch ein wenig bei Hepatitis C. Einzelne „reiche Länder“ haben sich nämlich tapfer geschlagen und gut verhandelt. In Spanien kosten 12 Wochen Sofosbuvir 13’000€, in Australien sogar nur ca 3’500€. Das sind keine armen Länder mit Access-Programmen - wie ist das möglich? Eigentlich ist es banal: Die Industrie will die Medikamente verkaufen. Wer sich zu einer bestimmten Menge verpflichtet, kriegt den besseren Preis. Australien hat eine Hepatitis-Strategie erarbeitet und sich das Ziel gesetzt, Hepatitis C bis 2026 zu eliminieren. Die Regierung steht voll und ganz hinter dem Programm. In den nächsten 5 Jahren sollen mehr als 120'000 Patienten geheilt werden, allein 2016 erwartet man 40'000. Dies entspricht einem jährlichen Therapiebudget von 200 Millionen AU$. Wo Visionen gefragt wären, behilft man sich in der Schweiz mit Limitationen. Man darf, man soll etwas daraus lernen.

Ein ähnliches Bild wie bei Hepatitis C zeigt sich bei Entecavir. Dieses Medikament wird für die Behandlung von Hepatitis B eingesetzt und verliert 2017 den Patentschutz. Der offizielle Preis für Entecavir beträgt in den USA 15’111$ pro Jahr und pro Patient. In Frankreich und England sind es um die 7’000$, dies bei Herstellkosten von geschätzten 36$ - rein theoretisch wäre also ein Preis von um die 90$ pro Jahr und Patient möglich.

Und bei HIV?
Viele der im Moment oft verschriebenen Medikamente verlieren in den nächsten Jahren den Patentschutz. Es wäre also theoretisch möglich, hier Kostenvorteile zu realisieren. Efavirenz und Lamivudine gibt es bereits generisch, Abacavir/Lamivudine und Lopinavir/Ritonavir folgen Ende 2016. Weitere Substanzen folgen 2017 und 2018. Nur: Efavirenz nimmt in der Schweiz aus gutem Grund kaum ein Patient mehr, dasselbe gilt für Lopinavir/Ritonavir. Solange bessere und vor allem noch besser verträgliche Substanzen nachrücken, bleiben die Kostenvorteile durch Generika wohl eher Theorie.

Wieviel Transparenz darf es denn sein?
Der Vortrag von Andrew Hill war erhellend und in Glasgow in aller Munde. Ganz so einfach wie von ihm dargestellt ist die Sache aber nicht. Wir befinden uns in einem extrem regulierten Umfeld, wo Transparenz nach aussen ein Fremdwort ist. Es ist dieses überregulierte Umfeld, welches über die Medikamentenpreise bestimmt und nicht die Herstellkosten. Die Generikahersteller sind auch Geschäftsleute. Forschung betreiben sie keine, Risiken haben sie kaum, Preise maximieren sie trotzdem.

Die forschende Pharmaindustrie pflegt und verteidigt ihr innovatives Image mit viel Energie. In vielen Ländern, auch der Schweiz, ist sie ein wichtiger Steuerzahler und ein gesuchter Arbeitgeber. Meist übersieht man, wie kleinteilig diese Industrie produziert, wie wenig echten Wettbewerb sie kennt und wie wenig kompetitiv sie eigentlich ist. Statt wie die Autoindustrie am Fliessband arbeitet die Pharma mit Konfektionsware wie eine gute Confiserie in einer grösseren Stadt. Patienten wollen auch in kleinen Ländern mit den dort zugelassenen Packungen beliefert werden. Lieferengpässe werden nicht toleriert. Das System ist auf allen Seiten enorm personalintensiv.

Wie weiter?
Die Gesundheitssysteme auch reicher Länder sind unter enormem Kostendruck. Wenn die Systeme langfristig funktionieren sollen, müssen sie robuster werden. Gute, teure Medikamente nützen niemandem, wenn sie nicht bezahlbar sind und die Patienten keinen Zugang haben. Derart komplexe Systeme im Schwung zu halten erfordert viel Knochenarbeit, noch mehr guten Willen und vor allem mehr Transparenz auf allen Seiten. Ärzteschaft und Patienten verstehen, dass nicht alles und jedes finanzierbar ist. Sie möchten aber als selbständig denkende Akteure ernstgenommen und respektiert werden. Das australische Modell für Hepatitis C hat Vorbildcharakter auch für die Schweiz.

David Haerry / November 2016

 

1 National Health Service, das nationale englische Gesundheitssystem
2 Skaleneffekt: Abhängigkeit der Produktionsmenge von der Menge der eingesetzten Produktionsfaktoren. Positive Skaleneffekte machen die Massenproduktion ökonomisch möglich.
3 Dies ist der höchste Preis für Sofosbuvir ausserhalb der USA. In der Praxis dürfte er aber tiefer liegen weil sich die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland Rabatte und Preisnachlässe aushandeln. Diese sind nicht publik.
4 Compendium.ch, überprüft am 28. November 2016

Die HIV-Kombinationstherapie ist ein Erfolgsmodell, man kann es nicht genug betonen. Sie wirkt, wird gut vertragen, ist einfach einzunehmen und ist zu vertretbaren Kosten in Westeuropa für alle Patienten zugänglich. Die Lebenserwartung von HIV-Patienten ist fast gleich wie bei Nichtbetroffenen. Zudem ist die Therapie für alle auch ein sehr wirksames Präventionsinstrument. Kann man auf diesem hohen Niveau noch etwas verbessern?

Roy Gulick vom Weill Cornell Medical College New York hat sich dieser Frage gestellt: Das Niveau ist zwar sehr hoch, doch das Bessere ist der Feind des Guten. Sind es nun 29 oder 30 zugelassene Medikamente, in 5 oder 6 Funktionsklassen? Man hört beide Zahlen, und beide haben ihre Richtigkeit. Es gibt europaweit bloss noch eine Handvoll Patienten, welche den Fusionsinhibitor T-20 brauchen. Vor 10 Jahren war diese teure Substanz für viele Betroffene mit Mehrfachresistenzen überlebenswichtig, heute ist sie eine Randnotiz.

Gulick verglich in seinen Ausführungen die fünf international wichtigsten Therapierichtlinien (US DHHS, IAS-USA, EACS, BHIVA und WHO 1). Diese sind sich einig wie noch selten zuvor. Alle Menschen mit HIV sollen behandelt werden. Nur die WHO möchte Prioritäten setzen für die Menschen mit CD4 unter 350. Aber womöglich will auch die WHO alle behandeln. Je nach Richtlinie gibt es insgesamt zehn empfohlene Ersttherapien. Das heisst: Zwei Nukleosidanaloga plus entweder ein Nicht-Nukleosidananlog, ein Protease- oder ein Integrasehemmer.

Wirksamkeit
Um 1995 erreichten knapp 43% der Menschen mit HIV das Ziel einer nicht nachweisbaren Viruslast. In den neusten Studien sowie in der Schweizerischen HIV-Kohorte sind es über 90%. Mehrfachresistenzen sind in der Schweiz sehr selten geworden, wir haben darüber berichtet 2. Weil das nicht überall gilt, müssen neue Substanzen gegen bekannte Resistenzen wirksam sein.

Pipeline
In Entwicklung sind im Moment neue Nukleosid- sowie Nicht-Nukleosidanaloga, neue Integrase sowie Entry-Inhibitoren in den bereits bekannten Wirkstoffklassen. Zu den neuen Klassen gehören sogenannte Attachment-Inhibitoren (gegenwärtig in Phase 3, die letzte Stufe vor einer Zulassung) sowie Maturation-Inhibitoren (gegenwärtig in Phase 2, wo die Dosierung bestimmt wird).

Verträglichkeit
Für Patienten unter Dauertherapie ist die Verträglichkeit eines der wichtigsten Themen überhaupt. Haben vor 20 Jahren noch 14% der Studienteilnehmer die damals überlebenswichtige Therapie wegen Unverträglichkeit abgebrochen, sind es in den neusten Studien noch 1-3% - und diese Patienten haben im Gegensatz zu früher Alternativen. Das altbekannte Efavirenz wirkt auch in kleineren Dosen und wird damit verträglicher, für das langfristig problematische Tenofovir kommt eine Nachfolgesubstanz mit einer viel kleineren Dosierung. In der breiteren Anwendung, ausserhalb von Studien, muss sie sich allerdings noch bewähren.
Es gibt immer wieder Versuche, für die Erhaltungstherapie, nach erfolgreichem Einleiten und Unterdrücken der Viruslast, die Substanzen von drei auf zwei oder sogar nur eine zu reduzieren. Es ist gut möglich, dass Zweierkombinationen als Erhaltungstherapien Einzug in die Richtlinien bekommen, aber es ist noch zu früh. Monotherapien werden immer wieder untersucht, sind aber aus der Sicht des Schreibenden kaum realistisch.

„Convenience“ – Dosierung
Die berüchtigte Handvoll Pillen zweimal am Tag ist zum Glück Geschichte. Für die meisten Patienten gilt heute „eine Pille pro Tag“, oder zumindest „2-3 Pillen einmal am Tag“. Hier sind in naher Zukunft, das heisst in drei bis fünf Jahren, weitere Verbesserungen zu erwarten. Wir reden hier zum Beispiel von Depotformulierungen, die alle 8-12 Wochen gespritzt werden, oder alle paar Monate über kleine Implantate verabreicht werden.

Behandlungszugang
Hatten 2010 7,5 Millionen Menschen mit HIV Zugang zu einer Therapie, waren es 2015 bereits 17 Millionen. Die Fortschritte sind enorm, doch sind wir noch nicht am Ziel. Sehr problematisch und unübersichtlich ist die Lage vor allem in Osteuropa und Zentralasien (ex Sowjetunion). Bis 90% der Patienten sind hier mit Hepatitis C ko-infiziert, viele haben zudem mehrfach resistente Tuberkulose, plus sehr viel Stigma obendrauf – ein Teufelskreis mit wenig Aussicht auf rasche Besserung.

Lebenserwartung
In der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie hat sich die Lebenserwartung von Menschen mit HIV dramatisch verbessert. Gut ausgebildete Menschen mit HIV haben heute dieselbe Lebenserwartung wie die Normalbevölkerung. Weitere Verbesserungen sind zu erwarten. 

Schlussfolgerungen

  • Wirksamkeit: diese bleibt gleich gut und verbessert sich vor allem bei Multiresistenzen
  • Sicherheit, Verträglichkeit: wird sich weiter verbessern
  • Convenience: wird sich weiter verbessern
  • Wirtschaftlichkeit: wird sich weiter verbessern
  • Behandlungszugang: grosse Verbesserungen sind weiter zu erwarten (WHO Ziel: 20 Millionen Menschen unter Therapie bis 2020)
  • Lebenserwartung: wird sich weiter verbessern und könnte jene der Normalbevölkerung sogar übertreffen. Hauptgrund ist die gute Überwachung der Patienten.

David Haerry / November 2016

 

1 US DHHS 2016: www.aidsinfo.nih.gov; IAS USA 2016: JAMA 2016;316:191; EACS 2016, www.eacsociety.org; UK 2016, www.bhiva.org; WHO 2016: who.int/hiv/pub/guidelines/en/
http://neu.positivrat.ch/medizin/therapie/167-neues-aus-der-kohortenstudie-shcs-neues-aus-der-kohortenstudie-shcs-therapieresistenzen-sind-geschichte-1.html

Diskussionen um die PrEP waren an der Konferenz in Glasgow Ende Oktober 2016 eines der dominierenden Themen. Zum Einen weil die Thematik in vielen europäischen Ländern diskutiert wird, zum Anderen weil gerade in England der Zugang und die Kostenübernahme der PrEP nicht gelöst sind. Für eine Überraschung sorgte Norwegen: das Gesundheitsministerium verkündete am 20. Oktober, dass die PrEP künftig durch das nationale Gesundheitssystem gratis erhältlich ist.

Norwegen ist damit nach Frankreich das zweite Land in Europa, wo eine PrEP erhältlich ist, und das erste weltweit wo die Präventionspille gratis ist. Erst nach der Konferenz wurde bekannt, dass das NHS England vor einem Berufungsgericht unterlegen ist. Die Richter befanden, dass das NHS für die Abgabe von PrEP zuständig ist. Das Urteil wurde insbesondere damit begründet, dass die Post-Expositionsprophylaxe PEP bereits übernommen wird.

Das Hickhack um die Kostenübernahme in England hat dazu geführt, dass PrEP Aktivisten eine Webseite zum online Einkauf eingerichtet haben (iwantprepnow.co.uk). Die Webseite listet 4 Quellen für ein Truvada Generikum. Die monatlichen Kosten belaufen sich zwischen 31£ und 78£ pro Monatspackung 1. Die Dean Street Clinic in Soho, London ist die Anlaufstelle für schwule Männer mit sexuell übertragbaren Krankheiten. Die zunehmende Anzahl Patienten, welche PrEP online einkaufen ermunterte die Klinik zu einer Studie 2. Man überprüfte die Medikamentenspiegel für Truvada bei 234 Kunden der online Apotheken zwischen Februar und September 2016. Es könnte ja gut möglich sein, dass die inoffizielle Quelle für den Medikamentenbezug eine nachlässige oder ungenaue Einnahme zur Folge haben könnte.

Die Männer waren im Durchschnitt 37-jährig. Ein Drittel von ihnen verkehrt in der Chemsex-Szene. 85% nahmen die PrEP täglich, nur 15% bloss bei Bedarf. Fast zwei Drittel der Selbstbezüger nutzten den Kanal www.unitedpharmacies-uk.md; nahezu alle bezogen das indische Generikum Tenvir-EM der Firma Cipla.

Die Forscher verglichen die Blutspiegel der Selbstbezüger mit jenen von Patienten, welche Truvada direkt in der Klinik bezogen – entweder als PROUD-Studienteilnehmer oder Selbstzahler. Die Medikamentenspiegel waren bei allen Teilnehmern vergleichbar und genügend hoch, um eine HIV-Infektion zu vermeiden. Während der kurzen Beobachtungszeit hatte sich auch keiner der Patienten mit HIV infiziert. Die wichtigsten Fragen hat die kleine Studie beantwortet:

  • Niemand hat gefälschte oder ungenügend wirksame Medikamente genommen
  • Alle haben genug hohe Medikamentenspiegel, um eine Infektion abzuwehren.

Nneka Nwokolo präsentierte die Daten. Sie schloss mit den Worten „Solange PrEP nicht über das NHS erhältlich ist, ist es wichtig dass alle potentiellen Nutzer einer PrEP Zugang zu einer bezahlbaren Therapie haben“. Diesem Votum schliessen wir uns gerne an.

An dieser Stelle noch ein kurzer Hinweis auf eine holländische Modellingstudie, welche Ende September im Lancet publiziert wurde 3. Das Modell untersuchte die Kosteneffizienz einer täglichen PrEP, wenn sie zu heute gültigen Preisen in den Niederlanden an schwule Männer mit hohem Infektionsrisiko verschrieben wird.

Das Modell geht davon aus, dass eine PrEP zu 80% wirkt, dass 10% der schwulen Männer mit hohem Infektionsrisiko eine PrEP nehmen, dies bei den heute geltenden Preisen. Die Kosten pro qualitätskorrigiertes Lebensjahr (quality adjusted life year QALY) würden 11'000€ betragen. Würde die PrEP statt täglich nur bei Bedarf genommen und die Pillenmenge halbiert, sinken die Kosten auf 2’000€. Das Modell betrachtet Kosten von unter 20’000€ als kosteneffizient.

Eine tägliche PrEP würde Geld sparen, wenn die Kosten um 70% sänken – das heisst, die Kosten der PrEP würden durch Ersparnisse bei verhinderten Infektionen kompensiert. Wird PrEP nur bei Bedarf eingesetzt, wären direkte Ersparnisse bereits bei 30-40% tieferen Kosten möglich.

Dieses Modell aus Holland ist realistischer als frühere Berechnungen, weil es die überraschend guten Ergebnisse der europäischen PROUD- und IPERGAY-Studien berücksichtigt. Zudem geht es davon aus, dass nur 10% der schwulen Männer mit hohem Infektionsrisiko wirklich eine PrEP verschrieben bekommen – was ebenfalls realistisch ist. Damit würden pro Jahr in den Niederlanden 4'500 schwule Männer eine PrEP nehmen, und dies für durchschnittlich 5 Jahre. Auch wenn 80% der Männer mit dem höchsten Risiko eine PrEP nehmen würden – das bedeutet 36'000 Männer unter PrEP – wären die Kosten bloss 40% höher als wenn PrEP nicht verfügbar wäre. Unter den meisten Szenarien würden immer noch Kosten gespart.

Laut der Autoren erscheinen die kurzfristigen Kosten einer PrEP zwar hoch, doch werden langfristig Therapiekosten eingespart, ganz besonders wenn die Kosten für eine PrEP sinken würden.

 

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Da in der Schweiz sowohl die offizielle Zulassung durch Swissmedic als auch eine Kostenübernahme durch die Grundversicherung keine Themen sind, ist iwantprepnow.co.uk auch für Nutzer aus der Schweiz interessant. Damit es beim Import keine Probleme gibt, muss der Bezüger ein ärztliches Rezept vorlegen und maximal drei Monatsdosen aufs Mal einführen.

Betreffend Zulassung durch Swissmedic hat sich die Patentinhaberin Gilead inzwischen geäussert. Offenbar sind der Firma die Swissmedic Prozesse zu kompliziert und zu langwierig. Das hat etwas: In der Schweiz ist für eine Erweiterung einer bestehenden Zulassung ein neuer Antrag nötig – dieser dauert länger als ein Jahr. In Europa gibt es für diese Fälle ein spezielles Verfahren, es dauert zwischen 60-90 Tagen. Trotzdem sind wir der Meinung, dass sich die Firma mehr engagieren sollte. Man darf sich nicht wundern, falls auch hierzulande die Generika diesen Markt übernehmen. Besonders gewünscht wäre auch ein Engagement der Firma für eine PrEP-Implementierungsstudie in der Schweiz. Das ist nötig, weil eine breitere Abgabe von PrEP spezielle Anforderungen an das Gesundheitssystem stellt. Von den Kliniken wissen wir, dass sie an einer solchen Studie sehr interessiert sind.

David Haerry / November 2016

 

1 Publikumspreis für das Originalpräparat in der Schweiz Fr. 899.30 (Quellle: Compendium CH, überprüft 27.11.2016)
2 Wang X, Nwokolo N (presenter), Boffito M et al. InterPrEP: internet-based pre-exposure prophylaxis (PrEP) with generic tenofovir DF/emtricitabine (TDF/FTC) in London – analysis of pharmacokinetics, safety and outcomes. International Congress on Drug Therapy in HIV Infection (HIV Glasgow), Glasgow, abstract O315, 2016.
3 Nichols BE et al. Cost-effectiveness analysis of pre-exposure prophylaxis for HIV-1 prevention in the Netherlands: a mathematical modelling study. The Lancet, early online publication, 22 September 2016, http://dx.doi.org/10.1016/S1473-3099(16)30311-5

Die Data Collection on Adverse Events in Anti-HIV Drugs (D:A:D) Studie ist eine Zusammenarbeit von 11 Kohortenstudien aus Europa, den USA und Australien mit 49'000 HIV-Patienten. Die Schweizerische HIV-Kohortenstudie SHCS beteiligt sich seit vielen Jahren an D:A:D. Im März 2008 präsentierte D:A:D zum ersten Mal Daten, welche beim Einsatz von Abacavir eine Steigerung des Herzinfarktrisikos um 90% nahelegten. Dieser Befund erschreckte viele Patienten. Die amerikanische Behörde FDA passte die Patienteninformationen an, die europäische Behörde EMA hingegen wollte dies nicht tun – die Daten galten als zu wenig beweiskräftig.

Nach den überraschenden D:A:D Erkenntnissen von 2008 versuchten mehrere andere Studien die Resultate ebenfalls zu reproduzieren – die Ergebnisse waren unterschiedlich. Einige Studien erzielten dieselben Resultate, andere aber nicht. Einige Studien zeigten beispielsweise auf, dass die Assoziation zwischen Myokardinfarkten und Abacavir verschwand, wenn die Analysen für Nierenfunktionsstörungen und Drogengebrauch angepasst wurden. Meta-Analysen kamen auch zu unterschiedlichen Daten. Weitere Studien versuchten, die Mechanismen zu verstehen, welche den Zusammenhang erklären könnten.

Kohortenstudien sind Überwachungsstudien und haben den Nachteil, dass verschiedene Einflussfaktoren auf die Resultate einwirken können. Wenn diese bekannt sind, kann man sie berechnen und berücksichtigen, wenn nicht, wird es schwierig. Idealerweise müsste eine sogenannte randomisierte Studie den Beweis erbringen, oder eine zweite Kohortenstudie müsste den Effekt bestätigen.

2008 wurde kritisiert, dass das Medikament bevorzugt an Patienten mit einem vorbestehend erhöhten Herzinfarktrisiko verabreicht wurde und der Effekt so entstand. Abacavir wurde nämlich früher anstelle von anderen, älteren Substanzen verschrieben, welche die Blutfettwerte beeinflussen. Aufgrund dessen wurde angenommen, dass Patienten, denen Abacavir verschrieben wurde, von vornherein ein höheres Herzinfarktrisiko hatten. In der älteren Analyse wurden andere mögliche Einflussfaktoren bereits berücksichtigt: Alter der Patienten, Übertragungswege bei der Infektion mit HIV, ethnische Faktoren, Kalenderjahr, Kohorte, Rauchverhalten, familiäre und persönliche Risiken, Body Mass Index sowie andere HIV-Medikamente. Spätere Analysen berücksichtigten auch Nierenfunktionsstörungen als Einflussfaktoren.

D:A:D zeigte zudem, dass das Risiko nach Absetzen von Abacavir offenbar verschwand, und dass beim Einsatz von Tenofovir kein kardiovaskuläres Risiko nachgewiesen werden konnte. Seit 2008 wurde in Behandlungsrichtlinien auf ein mögliches Risiko hingewiesen. Die Verschreibungspraxis hat sich deshalb seither verändert. Die eben publizierte neue Studie berücksichtigt das mittlerweile bessere Verständnis der möglichen Zusammenhänge.

Die Daten wurden während der Routineuntersuchungen gesammelt. Sie umfassen sozio-demografische Faktoren, AIDS-bedingte Erkrankungen und Todesfälle, kardiovaskuläre Risikofaktoren, Laborwerte wie CD4 und Viruslast, kardiovaskuläre Erkrankungen, Therapieinformationen und Medikamente welche das kardiovaskuläre Risiko beeinflussen. Es wurden dabei drei Gruppen gebildet – die erste ab 1999 bis 2000, eine zweite ab 2004 und eine dritte ab 2009.

Die komplexen statistischen Verfahren zu erläutern würde diesen Kurzbeschrieb etwas überlasten. Das Wichtigste in Kürze: Die Daten aller beobachteten Patienten wurden einmal pro Jahr analysiert und das kardiovaskuläre Risiko auf die nächsten 10 Jahre mit der Framinghamskala analysiert. Die analysierten Patienten wurden in Risikokategorien eingeteilt und klassiert mit einem vorbestehend tiefen (unter 10%), mittleren (10-20%) oder hohen (über 20%) Risiko für Herzinfarkte oder mit unbekanntem Risiko. Es wurde auch untersucht, ob sich der 2008 beobachtete Zusammenhang zwischen Abacavir Gebrauch und Herzinfarkten seit der ersten Studie verändert hat. Interessant ist, dass der Raucheranteil seit 2005 rückläufig ist, sich die Blutfettwerte verbessert haben, durch die verbesserten Therapien die CD4-Werte anstiegen und die Viruslast allgemein tiefer war. Der Gebrauch von Abacavir hat sich zwischen dem Jahr 2000 und 2008 von gut 10% auf fast 20% verdoppelt. Nach 2008 sank er wieder leicht auf 18% ab. In der Gruppe mit mittlerem kardiovaskulärem Risiko stieg der Einsatz von Abacavir von 15% im Jahr 2000 auf über 25% im Jahr 2008 und sank 2012 auf 21%. In der Gruppe mit hohem Risiko betragen die Werte 17,5%, 26,6% und 21,7%. Nach 2008 haben Patienten mit mittlerem und hohem kardiovaskulärem Risiko seltener eine Abacavir enthaltende Ersttherapie erhalten. Bei den gleichen Gruppen wurde seit 2008 Abacavir auch häufiger als früher durch andere Substanzen ersetzt.

Laut D:A:D ist der Zusammenhang zwischen Abacavir und höherem kardiovaskulärem Risiko unverändert sichtbar. Patienten unter Abacavir hatten ein doppelt so hohes Risiko für einen Herzinfarkt im Vergleich zu den Patienten, denen kein Abacavir verschrieben wurde. Unbekannte Einflussfaktoren können aber nicht ausgeschlossen werden. Weil Abacavir zunehmend in Kombinationspillen enthalten ist, müssen wir künftig von einem vermehrten Einsatz des Medikamentes ausgehen.

Seit 2008 versuchten einige Forschungsgruppen die D:A:D Resultate zu replizieren – das gelang nicht immer, wurde aber vor allem in Überwachungsstudien gemessen. Mehrere Meta-Analysen randomisierter Studien konnten den Effekt nicht nachweisen. Es ist aber möglich, dass die in diesen Studien eingeschlossenen Patienten generell gesünder sind und ein tieferes kardiovaskuläres Risiko aufweisen. Einer der Gründe für die fortdauernde Debatte ist der Umstand dass kein biologischer Mechanismus identifiziert werden konnte.

Schlussfolgerung
Die Autoren der D:A:D sehen nach wie vor einen starken Zusammenhang zwischen gegenwärtigem Abacavirgebrauch und Herzinfarkten. Trotz dieser neuen Daten wäre eine genügend grosse randomisierte Studie welche dem Sachverhalt auf den Grund gehen würde ethisch kaum vertretbar. Fazit: kristallklar ist der Zusammenhang nach wie vor nicht. Die Autoren empfehlen aber, dass das mögliche Risiko mit den Patienten diskutiert und eine informierte Entscheidung gefällt wird.

Kommentar
Der letzte Satz, die Diskussion mit dem Patienten, erscheint uns ganz wichtig. Dieses Gespräch muss geführt werden, aber es müssen auch viele andere Faktoren in die Diskussion einfliessen. Liegen kardiovaskuläre Risiken vor, die dem Arzt vielleicht gar nicht bekannt und dem Patienten nicht bewusst sind? Stichwort Rauchen (wieviel? – die meisten Kohorten wissen nur ja/nein, haben aber keine Mengenangaben). In vielen Kohorten sind bis 60% der Patienten als Raucher bekannt. Zweites Stichwort: Kokaingebrauch – vor allem in der Schweiz ein Thema. Geben das alle Patienten zu?

Es gilt auch, die Risiken anderer Medikamente zu berücksichtigen, zu diskutieren und zu beobachten. Die wirksame und risikofreie HIV-Therapie gibt es heute und morgen nicht. Man kann beobachten, abwägen, diskutieren und in vielen Fällen eine möglichst optimale Therapie anwenden. Und die wichtigste Botschaft betreffend kardiovaskulärem Risiko an alle Patienten: nicht rauchen, kein Kokain verwenden, ausgewogene Ernährung (Mittelmeerdiät) und regelmässige Bewegung – das spart Geld und hält gesund.

David Haerry / Oktober 2016

 

1 C. Sabin et al, “Is there continued evidence for an association between abacavir usage and myocardial infarction risk in individuals with HIV? A cohort collaboration”, BMC Medicine (2016) 14:61 DOI 10.1186/s12916-016-0588-4